Der Amtsarzt: Untersuchungsinhalte und Begutachtungsfelder
Die amtsärztliche Begutachtung im Spannungsfeld zur Auffassung des niedergelassenen Mediziners
Den nachstehenden Erläuterungen möchten wir einen richtungsweisenden Satz aus einer zivilprozessualen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vorausschicken, der unsere individuelle Auffassung (persönliche Ansicht) recht präzise widerspiegelt: Es geht maßgeblich um die Überzeugungskraft der Argumente und nicht darum, einer spezifischen gutachterlichen Instanz aufgrund ihrer Position oder ihres Amtes den absoluten Vorzug einzuräumen.
Die nachfolgende Passage entstammt dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11. November 2014, Aktenzeichen VI ZR 76/13:
Im Rahmen von Arzthaftungsprozessen ist der zuständige Richter (der Tatrichter) angehalten, Diskrepanzen zwischen den Ausführungen diverser Sachverständiger (Experten) proaktiv zu untersuchen und sich ausführlich mit ihnen zu befassen, selbst wenn es sich hierbei um privat beauftragte Gutachten handeln sollte. Es ist ihm untersagt (Der Tatrichter darf nicht), die Meinungsverschiedenheit der Gutachter (den Expertenstreit) zu schlichten, indem er einem von ihnen ohne eine schlüssige und nachvollziehbare Begründung den ungerechtfertigten Vorzug gewährt.
Nach unserer Auffassung besitzt eine amtsärztliche Expertise (Gutachten) den Charakter eines Beweismittels; ihr können jedoch andere Beweismittel (Nachweise) gegenübergestellt werden.
Es versteht sich logischerweise (von selbst), dass ein Amtsarztgutachten keinen Verwaltungsakt verkörpert und folglich nicht mittels eines förmlichen Widerspruchs angegriffen (angefochten) werden kann.
Es ist daher unabdingbar, es (das Gutachten) mit der vollen Kraft stichhaltiger medizinischer Argumente zu entkräften.
In diesem Kontext wird oft auf einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 2010 - Az.: 2 B 126/09 - Bezug genommen, der besagt:
"2. Die ärztliche Einschätzung des Amtsarztes genießt (oder: hat) keine uneingeschränkte, sondern lediglich eine begrenzte Vorrangstellung (Priorität) gegenüber der Beurteilung des niedergelassenen Privatarztes, sofern beide Expertisen (Beurteilungen) hinsichtlich desselben gesundheitlichen Zustands (Krankheitsbildes) des Beamten voneinander abweichen. Eine absolute Priorität (ein unbedingter Vorrang) wäre mit dem fundamentalen Prinzip der freien Beweiswürdigung (gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sowie § 3 BDG) unvereinbar. Demzufolge existiert keine allgemeingültige Hierarchie (Rangordnung) der Beweismittel; diese sind vielmehr prinzipiell (grundsätzlich) als gleichwertig anzusehen."
Im Grunde genommen dreht es sich somit nicht um die Frage, welcher Arzt die größere Kompetenz aufweist, sondern ausschlaggebend ist vielmehr, welche Seite die überzeugenderen Argumente (Beweisführungen) vorbringt.
Dennoch neigt die Gerichtsbarkeit (Rechtsprechung) dazu, der Auffassung des Amtsarztes oft einen gewichtigeren Stellenwert beizumessen als den Aussagen anderer Mediziner, insbesondere den Bekundungen des niedergelassenen Privatarztes.
Selbstverständlich ist es unser Bestreben als Rechtsanwälte, die jeweilige medizinische Begutachtung im Detail nachzuvollziehen, insbesondere dann, wenn die beteiligten Mediziner voneinander abweichende (divergierende) Meinungen vertreten.
Welche Diagnose ist die zutreffende? Wie gestalten sich die Aussichten auf eine erfolgreiche Therapie? Und welche Auswirkungen zieht die vorliegende Erkrankung nach sich?
Aus unserer Perspektive ist es unerlässlich, sich diesen Sachverhalten (Fragen) inhaltlich (substanziell) zu widmen; dies bedeutet, möglichst viele relevante Informationen zu erheben und diese anschließend akribisch zu bewerten.
Dabei liegt der Fokus nicht darauf, welche der Parteien überlegenere Fähigkeiten besitzt. Vielmehr muss aus den unterschiedlichen Meinungen (Auffassungen) die objektiv korrekte Einschätzung herauskristallisiert werden.
Der verbreiteten Neigung der Gerichte, den Amts- und Betriebsärzten (Unternehmensärzten) eine überlegene Fachkompetenz zuzuschreiben, muss in jedem konkreten Fall mithilfe der Unterstützung Ihrer behandelnden Ärzte und Ihrer Anwälte mit präzisen, inhaltlich fundierten Argumenten begegnet werden. Zudem sollten Sie darauf hinweisen, dass das Bundesverwaltungsgericht die Erwartung hegt, dass die Gerichte die medizinischen Sachverhalte (gesundheitlichen Fragen) vollumfänglich nachvollziehen und sich eine eigenständige (unabhängige) Urteilsbildung zulegen.
Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Gesetzgebung (das Gesetz) explizit nur von Amtsärzten oder von Ärzten spricht, "die als Gutachter ordnungsgemäß zugelassen sind". Keineswegs alle Mediziner zählen zu diesem ausgewählten Kreis.
Ferner wird behandelnden Ärzten und Therapeuten oft eine gewisse Skepsis entgegengebracht, da ihnen eine vermeintlich zu große Nähe zu den betroffenen Patienten nachgesagt wird.
Hinsichtlich potenzieller Meinungsverschiedenheiten (Divergenzen) zwischen privaten Medizinern und Amtsärzten vertritt das Bundesverwaltungsgericht die nachstehende Auffassung, wobei sich die Ausführungen im anfänglichen (ersten) konkreten Fall auf den Beleg der gegenwärtigen und nicht der dauerhaften Dienstunfähigkeit beziehen und beide Gerichtsentscheidungen damals noch nicht so unmissverständlich darauf ausgerichtet waren, dass die Gerichte medizinische Sachverhalte auch inhaltlich (vollumfänglich) nachvollziehen sollten.
Die Haltung des Bundesverwaltungsgerichts
Urteil des Disziplinarsenats vom 11.10.06 - BVerwG 1 D 10.05 -:
Die ärztliche Einschätzung (Beurteilung), die von einem Amtsarzt oder einem von ihm beigezogenen Facharzt vorgenommen wird, erhält bei der Entscheidung über die gegenwärtige Dienstfähigkeit (oder Arbeitsfähigkeit) eines Beamten den Vorrang gegenüber der medizinischen Beurteilung des Privatarztes, falls beide Expertisen hinsichtlich desselben Krankheitsbildes inhaltlich (substanziell) voneinander abweichen.
Im Einzelnen (konkret erläutert):
Eine Dienstunfähigkeit im Sinne von § 44 BBG ist gegeben, sofern der Beamte (Bedienstete) aufgrund seines physischen oder mentalen Zustandes (Befindens) außerstande ist, den ihm zugewiesenen dienstlichen Aufgaben vollumfänglich nachzukommen.
Reicht der Beamte (der Bedienstete) zur Bestätigung seiner Unfähigkeit zur Dienstausübung entsprechende Dienstunfähigkeitsbescheinigungen von behandelnden Privatärzten ein, so lässt sich der Nachweis seiner Dienstfähigkeit (oder Tauglichkeit) üblicherweise nur durch die Konsultation eines Amtsarztes erbringen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ärztliches Fachwissen (medizinische Sachkunde) zur Validierung medizinischer Befunde unerlässlich ist. Sofern trotz der bereits vorgelegten Dienstunfähigkeitsbescheinigungen Indizien für die fortbestehende Dienstfähigkeit des Beamten existieren, ist der Dienstherr befugt, ihn dazu anzuhalten, die Dienstunfähigkeit durch die Vorlage einer amtlichen ärztlichen Stellungnahme (Gutachten eines Amtsarztes) zu beweisen.
Sofern die ärztliche Beurteilung des Amtsarztes bezüglich desselben Krankheitsbildes von der Expertise des behandelnden Privatarztes abweicht, wird der amtlichen Stellungnahme unter nachstehenden Voraussetzungen Vorrang eingeräumt:
Es dürfen keine fundierten (begründeten) Zweifel an der fachlichen Kompetenz des Amtsarztes oder eines von ihm beigezogenen Facharztes bestehen.
Die ärztliche Einschätzung muss auf korrekten Tatsachengrundlagen basieren sowie in sich schlüssig und nachvollziehbar dargelegt sein.
Sollte der Privatarzt seinen medizinischen Befund eingehender dargelegt haben, so ist der Amtsarzt verpflichtet, sich mit diesen Erwägungen (Argumenten) auseinanderzusetzen und plausibel zu begründen, weshalb er ihnen nicht beipflichtet.
Diese fundamentalen Grundsätze beanspruchen in identischer Weise Geltung, falls sich der Amtsarzt der medizinischen Beurteilung eines von ihm hinzugezogenen Facharztes (Spezialisten) anschließt. Die Stellungnahme des Facharztes (Spezialisten) wird in diesem Fall dem Amtsarzt zugerechnet (Beschluss vom 08.03.01, BVerwG 1 DB 8.01, ZBR 2001, 297).
Dieser Vorzug (Vorrang) in einer Konfliktsituation ist in der Unparteilichkeit (Neutralität) und Autonomie (Unabhängigkeit) des Amtsarztes begründet. Ein Privatmediziner ist möglicherweise darum bemüht, das Vertrauen des Patienten zu ihm zu erhalten; der Amtsarzt hingegen nimmt seine Beurteilung (Einschätzung) aufgrund seiner Aufgabenstellung (Dienstanweisung) unbefangen und unabhängig vor. Er wahrt eine gleichbleibende Distanz sowohl zu den Beamten als auch zur Dienststelle (Urteil vom 09.10.02, BVerwG 1 D 3.02).
Die Problematik der Priorität amtsärztlicher Einschätzungen gegenüber privatärztlichen Expertisen ergibt sich lediglich dann, wenn beide in medizinischen Fragen inhaltlich (substanziell) voneinander abweichen. Eine solche Abweichung (Diskrepanz) bedingt jedoch, dass das privatärztliche Attest (Gutachten) die grundlegenden Kriterien der Nachvollziehbarkeit erfüllt; dazu gehören im Einzelnen die Behandlungsdauer, die präzise Diagnose sowie die angewandte Therapie.
Dies vorausgesetzt, kann eine solche Diskrepanz (Abweichung) ausschließlich dann vorliegen, wenn sich die jeweiligen Beurteilungen auf ein und dasselbe Krankheitsbild beziehen, sei es zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines definierten Zeitraums. Das Prinzip der Vorzugsstellung amtsärztlicher Beurteilungen (Einschätzungen) kann selbstverständlich nicht zur Entscheidungsfindung bezüglich der Dienstfähigkeit herangezogen werden, falls keine entsprechende Stellungnahme eines Amtsarztes zu einer vom Privatarzt attestierten Krankheit existiert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Dienstunfähigkeitsbescheinigung des Privatarztes entweder auf eine Krankheit bezieht, die nicht Gegenstand einer amtsärztlichen Begutachtung gewesen ist, oder auf eine neu aufgetretene Erkrankung, welche sich erst nach dem Zeitpunkt der ursprünglichen Untersuchung manifestiert hat. In solchen Fällen liegt demzufolge keine amtsärztliche Beurteilung (Einschätzung) vor, die der Einschätzung des Privatarztes widersprechen und folglich geeignet wäre, diese zu entkräften. Dementsprechend vermag auch die Feststellung des Amtsarztes, es liege keine auf Dauer angelegte, eine vorzeitige Pensionierung (Ruhestandsversetzung) rechtfertigende Dienstunfähigkeit des Beamten vor, nicht ohne Weiteres die Aussagen eines Privatarztes infrage zu stellen, der attestiert, dass der Beamte aufgrund einer vorübergehenden Krankheit aktuell nicht dienstfähig, das heißt arbeitsunfähig, sei (Beschlüsse vom 08.03.01 a.a.O.; vom 17.09.01 BVerwG 1 DB 22.01).
In einem Beschluss vom 14. Mai 2013 - Az.: 2 B 15.12 - hat das Bundesverwaltungsgericht diese Thematik noch einmal folgendermaßen dargelegt:
Der Verwaltungsgerichtshof hat zum einen in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats der amtsärztlichen Expertise des Facharztes ein größeres Gewicht beigemessen als dem privatärztlichen Gutachten.
Der medizinischen Beurteilung des Amtsarztes kommt zwar aufgrund des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 6 HDG kein unbedingter (absoluter), sondern lediglich ein eingeschränkter (begrenzter) Vorrang vor der Beurteilung des behandelnden Privatarztes zu. Falls beide Beurteilungen bezüglich desselben Krankheitsbildes des Beamten (Bediensteten) voneinander abweichen, dürfen sich die Tatsachengerichte in diesem Fall auf die Einschätzung des Amtsarztes stützen, sofern keine Zweifel an der Sachkunde des Amtsarztes beziehungsweise eines von ihm hinzugezogenen Facharztes bestehen, seine Beurteilung auf korrekten Tatsachengrundlagen beruht und in sich schlüssig und nachvollziehbar ist. Sollte der Privatarzt seinen medizinischen Befund eingehender dargelegt haben, so ist der Amtsarzt verpflichtet, sich mit diesen Erwägungen (Argumenten) auseinanderzusetzen und plausibel zu begründen, weshalb er ihnen nicht beipflichtet. Diese begrenzte Vorrangstellung (Priorität) im Falle eines Konflikts legitimiert sich durch die Neutralität und Unabhängigkeit des Amtsarztes. Ein Privatmediziner ist möglicherweise darum bemüht, das Vertrauen des Patienten zu ihm zu pflegen; der Amtsarzt hingegen nimmt seine Beurteilung (Einschätzung) aufgrund seiner Aufgabenstellung (Dienstanweisung) unbefangen und unabhängig vor. Er wahrt eine gleichbleibende Distanz sowohl zu den Beamten als auch zur Dienststelle (vgl. Beschlüsse vom 15.02.10 - BVerwG 2 B 126.09 - und vom 28.12.12 - BVerwG 2 B 105.11 -).
Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof zutreffend hervorgehoben, dass der Amtsarzt gleichzeitig Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ist und somit für die vom Beklagten aufgeworfene Thematik seines Krankheitsbildes in besonderem Maße kompetent ist, während einem Hausarzt, der als Internist tätig ist, auf diesem spezifischen Fachgebiet keine vergleichbare Kompetenz zukommt.
Die Beurteilung durch Betriebsärzte der Postnachfolgeunternehmen haben wir zunächst kritisch beurteilt. Diese Einschätzung hat sich jedoch zwischenzeitlich (oder: in gewisser Weise) relativiert.